Silvester in Berlin
Es ist der 31. Dezember und ich fahre mit dem Fahrrad ins Theater. Von früher her weiss ich, dass Silvester in Berlin nicht ungefährlich ist. Wie in der Schweiz der 1. August: Es darf gefeuert werden.Und zwar fast überall.
Überall rotten sich Männer, zum Teil fast noch Kinder, zusammen. Mit grossen Tüten und manchmal gar mit Wägelchen. Einige können knapp noch aufrecht stehen.
Am Radio haben sie verkündet, dass bezüglich Böllerschüssen und Angriffe auf Polizei und Feuerwehr eine 0-Toleranz Taktik herrsche. Es werden drei Feuerwerksverbotszonen (Alex, Steinmetzkiez in Schöneberg, Sonnenallee)eingerichtet: ab 18 Uhr mit Hundertschaften abgeriegelt. Das beruhigt mich nicht. Ich bin von Pankow unterwegs nach Mitte und erschrecke halbminütlich fast zu Tode und hoffe, ohne Hörschaden am Ziel anzukommen. Schade habe ich nicht an meine Isolationskopfhörer gedacht.
In dem Moment, in dem ich eine Gruppe stockbesoffener Jugendlicher erblicke, die auf dem Fahrradweg eine ganze Batterie von Feuerwerkskörpern entzünden, kriege ich Angst. Weshalb hab ich bloss die Leuchtweste übergezogen? Die halten mich womöglich für ihren Feind. Ich steige vom Rad und warte geduckt bis das Spektakel vorüber ist.
Mir ist mulmig zumute. Überall Alkoholisierte, Junge, Alte, auch Familien. Auf dem Fahrradweg geht gar nichts mehr. Ich nehm die Strasse und versuche schnell zu radeln. Völlig durchgeschwitzt komme ich am Ziele an.
Am nächsten Morgen sieht es draussen aus wie auf einem Schlachtfeld. Tonnenweise Müll und Scherben. Auch die netten Familien liessen alles liegen. Auf Trottoir und Veloweg gibt es kaum ein Durchkommen.
Die Polizei redet von einer erfolgreichen Nacht. Ein paar Tote, viele Schwerverletzte und ein ausgebombtes Haus. Kugelbomben seien in Deutschland nicht erlaubt. Sie würden illegal von Polen und Tschechien importiert. Es sind immer die anderen. Strengere Grenzkontrollen werden gefordert. Ein generelles Böllerverbot lehnt der regierende Bürgermeister ab: Wegen der Familien.
Wie wäre es, statt Böllerverbotszonen, wenige Orte einzurichten, in denen geböllert werden darf? Sogenannte Toleranzzonen?
Ich wurde zu meinem grossen Glück bis anhin von Kriegserfahrungen jeglicher Art verschont. Das Geknalle und Geblitzt in der Silvesternacht liessen jedoch auch mich erahnen, was es heissen könnte, sich im Krieg zu befinden.
Auch zwei Tage nach dieser Nacht kann ich es immer noch nicht fassen. Berlin lässt während einer Nacht des Jahres den Krieg zu.